Du kleiner süßer Junge, so klein bist du mittlerweile gar nicht mehr. Neun Jahre, das klingt viel. Deine Schwester hat in dem Alter bereits ihren Koffer für die Ferien selbst gepackt (und nichts vergessen). Du bist ganz anders. Unser Jüngster. Ein Träumerle.
Manchmal würde wir gern in deinen Kopf kriechen, um zu schauen, wie deine Welt von dort aus aussieht. Du kannst dich in Comics verkriechen, gedankenlos vor dich hin zeichnen. Das ist wundervoll und du wirkst so zufrieden dann. Du kannst dich stundenlang in Playmobil spielen vertiefen. Aber leider ist da ja auch noch der Alltag. Und deine und diese Welt passen da so gar nicht zusammen.
Du kannst Druck - besonders Zeitdruck - überhaupt nicht leiden. Überhaupt spielt Zeit bei dir eine andere Rolle als bei anderen. Los, wir müssen in zwei Minuten zur Schule fahren! Hopp, hopp. Und du? Machst Kleber auf und versuchst noch etwas zu basteln.
Wenn du von der Schule kommst, wirfst du deine Jacke auf den Boden. Auch wenn du sonst von draußen reinkommst - immer. Seit fünf Jahren predige ich dir: Bitte hänge die Jacke an die Kinder-Garderobe. Das kommt bei dir nicht an. Es ist dir einfach nicht wichtig. Manchmal habe ich das Gefühl, ich klopfe bei dir gegen eine milchige Glasscheibe. Es dringt einfach nicht zu dir durch.
Heute Morgen fragte ich, wo deine Brille sei. „Keine Ahnung“. Aber du musst doch wissen, wo du sie zuletzt hingelegt hast? Wir haben zusammen gesucht – und sie nicht gefunden. Du wirst sauer dann. Bist überfordert.
Dann schreist du: "Ein Schuh fehlt". Mit einem Schuh kann man nicht zur Schule gehen. Der andere ist weg, weg, weg. Maaaamaaaa! Wo ist der Schuh? Ich antworte dir, dass ich deinen zweiten Schuh nicht habe. Du wirst wütend, weil: Wir haben den bestimmt versteckt. Du schaffst es einfach nicht, deine Sachen beisammen zu halten. Du würdest manchmal sogar ohne Schulranzen losziehen, wenn ich dich nicht fragen würde, ob du da nicht durch Zufall etwas vergessen hast…
Jeden Abend diskutieren wir darüber, dass du Zähneputzen musst. Dich von selbst einfach mal bettfertig machen? Tust du nicht. Du gehst ins Zimmer, legst dich aufs Bett und wartest, bis wir sagen: Jetzt zieh mal dein Hose aus, jetzt putz mal deine Zähne. Warum ist das so?
Deine Schwester macht das alles von selbst, an der Erziehung allein kann es also nicht liegen. Welche Hilfestellungen brauchst du, damit du besser klarkommst? Auf Dauer ist es für uns so anstrengend, immer und immer wieder das Gleiche zu sagen.
Nichts geschieht einfach mal so – und das zieht so viel Energie. Und ja, wir geraten dadurch auch oft aneinander. Kannst du das jetzt nicht einfach mal machen? Dich morgens anziehen, damit wir pünktlich zur Schule kommen? Warum fällt es dir so schwer, Verantwortung für dich selbst zu übernehmen?
Dir ist es ja sogar zu anstrengend, dir neue Socken aus dem Kinderzimmer zu holen… Manchmal glaube ich, dir ist die Welt einfach zu schnelllebig und viel. Manchmal glaube ich auch, du wärst lieber Einzelkind geworden, hättest deine Ruhe und könntest dich in deinen Fantasiewelten verlieren. Und Zeit ohne Stress ohne Druck, einfach nur sein, in voller Harmonie.
Ich war so nicht, deine Schwester ist so nicht, deswegen ist es so schwer für mich, dich zu verstehen. Und ich möchte dich so gern verstehen, weil du ein toller Kerl bist. Klug, sensibel, ein treuer und loyaler Freund für deine Kumpels. Du bist so gerne Kind, du spielst so ausgiebig, du könntest über ein blinkendes Polizeiauto oder über eine fahrende Modelleisenbahn ausflippen vor Begeisterung. Hast du vielleicht einfach keine Lust auf diese Erwachsenenwelt?
Die Schule stört dich nur, „die sind das selber schuld, wenn sie den Unterricht so früh beginnen lassen, dann bin ich halt müde“. Solche Sätze sagst du.
Du könntest auch einfach immer zu Hause bleiben, glaub ich. Im Pyjama. Ohne Stress. Mit Hörspielen, Comics und Stiften. Aber leider lässt sich das weder mit unserem Alltag, noch mit der Schulpflicht in Deutschland kombinieren.
Wenn es ein Sabbatical gäbe wie im Job – ich glaub, ich würde dir das für die Schule nehmen. Dich einfach nochmal ein Jahr lang spielen lassen, bis dir langweilig wird. Und vielleicht könntest du dann mit neuer Energie und ein bisschen mehr Eigenverantwortung zurückkehren. Aber das ist Wunschdenken. Stattdessen ziehst das alles grad so viel Energie. Erwarten wir zu viel von Dir?
Tags: Schule, Schulsystem, Träumer, Anderssein, Hochsensibel, Kind, Erziehung, Eltern, Wut, Anstrengung0Gastbeiträge