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Gastbeitrag: Ein normaler Morgen oder Willkommen in der Attachment Parenting Hölle

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Jeden Morgen bringe ich meine Dreijährige in die Kita. Das Baby liegt im Wagen und guckt verträumt in den Himmel. Das große Kind steht auf dem Buggybrett und singt. Ich fühle mich dann wie auf einem dieser Fotos aus einer Elternzeitschrift. Nur zum Friseur müsste ich mal wieder...

Wir gehen in eine sehr nette Kita. Alle sind dort sehr bewusst. Das Essen ist bio. Der Hof ist begrünt. Die Spielsachen sind aus Holz. Die Kinder sind meistens blond und heißen Agathe und Friedrich. Also alles ganz normal bei uns im Kiez.

Jeden Morgen findet jedoch im Flur bei den Spinden ein Drama in drei Akten statt. Ein kleiner roter Drehstuhl mit Rollen dran spielt darin die Hauptrolle. Der Drehstuhl ist für die Erzieher*innen, die Kinder dürfen sich nicht draufsetzen. Es gibt im ganzen Flur nur eine Sitzgelegenheit – den roten Drehstuhl. Alle Eltern (und Großeltern, Arthrose hin oder her) rutschen kniend auf dem Boden herum, um ihren Kindern die Hausschuhe anzuziehen. Der kleine rote Drehstuhl steht am Rand und sieht uns mitleidig dabei zu. Vielleicht guckt er auch ein wenig spöttisch. 

Hatte ich erwähnt, dass er Rollen hat? Dass man sich, sobald man ihn sieht, wünscht, man dürfte sich daraufsetzen und mit Karacho den Flur entlangschießen, dass einem der Fahrtwind um die Nase weht und es im Bauch zu kribbeln beginnt? Nur so ein Gedanke…

Ratet mal, was in der Sekunde des Eintritts in den Kita-Flur als das sehnsüchtigste Bedürfnis meines großen Kindes kundgetan wird? Genau. 

Dann beginne ich zu erklären. Der Stuhl ist nicht für dich. Damit kann man sich verletzen. Komm, setz dich auf meinen Schoß, während ich im Dreck auf dem Hintern sitze. Das ist auch schön. Guck mal, alle anderen Kinder machen das auch so. 

Die Antwort meines Kindes ist ohrenbetäubend und leider unverständlich artikuliert, weil ihm dabei das Wasser aus den Augen schießt und gelbe Rotzblasen in den Nasenlöchern zerplatzen. Ich verstehe trotzdem gut, was es möchte.

Es will auf den roten Drehstuhl.

Die anderen Eltern auf dem Boden beginnen, unruhig zu werden. Sie sehen bewusst weg und reden ganz besonders achtsam mit ihren eigenen Kindern. Überall herrscht Frieden und Liebe. Ein Vater immerhin lächelt mitleidig in meine Richtung. Seine schwarze Anzughose ist am Hintern ganz staubig. Ich fühle mich trotzdem sehr allein. Alle anderen sind heilfroh, dass es mal nicht ihr Kind ist, das brüllt, und genießen es, solange es währt. Das verstehe ich völlig.

Ich erkläre, nehme wahr, nehme ernst. Spiegle. Jesper Juul sitzt kichernd auf meiner Schulter. Ich weiß, dass du jetzt traurig bist, weil du nicht auf den Drehstuhl darfst. Ich verstehe dich. Aber es geht nicht. Regeln sind dazu da, dass man sie einhält. Insgeheim weiß ich genau: Wäre ich jetzt hier allein mit meinem Kind, säße es schneller auf dem Drehstuhl, als die Regel wüsste, wie ihr geschieht. Pfeif auf diese bescheuerte Regel. Ich will auch auf den roten Drehstuhl.

Aber wir sind nicht allein. Mein Baby, das immer sehr geduldig wartet, bis wir wieder gehen, beginnt leise zu weinen, nun wird es ihm doch zu viel. Endlich gelingt es mir, meinem großen Kind mit Gewalt die Hausschuhe an die Füße zu schnallen. Plötzlich fällt sein Blick auf die Frühstücksdose. Es greift danach und will sie öffnen. Ich möchte weinen.

Denn: In unserer bewussten Kita darf man auf dem Flur nichts essen. Kein Stück Brot, keinen Apfel, nichts. Es könnte ja ein Kind allergisch sein und im falschen Moment vorbeigehen, wenn mein Kind sich gerade den Nussriegel reinschiebt. Und die Ameisen. Meinem Kind sind Ameisen und Allergien herzlich egal. Es möchte jetzt sofort etwas essen. Es ist kurz vorm Verhungern.

Manchmal, wenn wir allein auf dem Flur sind, drücke ich ihm schnell ein Stück Brezel in die Hand und sage, flott, ab in den Mund, schnell kauen und schlucken. Auch ich stopfe mir manchmal ein Stück rein, einfach, weil dieses Fluressenverbot so verdammt hungrig macht. Hungrig in der Seele. Und mein Gott, wir laufen ja nicht döneressend durch die Kita. Aber jetzt sind da all diese Eltern mit ihren Kindern, die lammfromm die geschlossene Dose in Empfang nehmen und damit Richtung Spielraum laufen. Am Drehstuhl vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ich spiele also Akt Zwei des Dramas zu Ende. Leider kein Essen auf dem Flur. Ich weiß, du bist jetzt ganz traurig. Ich allerdings bin gar nicht traurig, sondern wütend. Auf alles. Vielleicht am meisten auf mich.

Da biegt die Kitaleiterin um die Ecke. Oh, was ist denn los? Mein Kind schreit und spuckt und versteckt sich hinter meinem Rücken. Mein Baby brüllt jetzt wirklich. Die Leiterin sieht uns mit diesem wissenden Blick an und sagt: Sie hat ja gerade auch wirklich viel auf der Platte. Ich: Häh? Sie: Naja, mit dem Geschwisterchen und so.

Nee, ist klar. Wie konnte ich das meinem großen Kind antun? Ein Geschwisterchen zu kriegen, damit es nicht als Einzelkind aufwächst, das ist ja wirklich unheimlich egoistisch von uns. Wir sind ja auch die ersten Eltern, die ihrem Kind so etwas zumuten. Diese bewusste, bedürfnisorientierte Bio-Scheiße, die ich eigentlich ganz gut finde sonst, geht mir plötzlich gehörig auf die Nerven. Mein Kind schreit jetzt noch lauter, weil ihm eingefallen ist, dass es ganz schön viel auf der Platte hat gerade. Armes Kind. Kein Drehstuhl, kein Essen auf dem Flur, dann noch ein Geschwisterchen. 

Ich sage: Das ist bloß die Trotzphase. Die Leiterin sieht mich milde tadelnd an: Die Autonomiephase, meinen Sie. Ich möchte sagen: Autonomiephase my ass. Aber ich tue es nicht. Habe auch Brezel im Mund. 

Endlich bugsiere ich mein Kind in das Spielzimmer. Es ist ganz rot im Gesicht vom Weinen. Mein Baby hat sich wieder etwas beruhigt. Ich bin nassgeschwitzt. Tschüss, sage ich zum großen Kind und bewege mich langsam Richtung Tür. Ich spüre schon den Ruf der Freiheit, die zum Greifen nahe ist. Ich schleiche, damit ich nicht das Monster wieder aufschrecke. Zu spät! Mein Kind sagt: Mama soll noch was malen. Schicksalergeben nicke ich.

Unsere bewusste Kita hat draußen vor den Fenstern Kreidestücke ausgelegt, damit die Eltern zum Abschied von draußen etwas malen können. Denn nach den ersten zwei Akten sind ja erst dreißig Minuten vergangen, da hat man noch jede Menge Zeitpuffer für weitere Rituale des Wahnsinns. Jeden Tag hoffe ich, dass der Kelch an mir vorübergeht. Er geht nie vorüber. Ich male. Mit feuchter Kreide auf Fensterglas. Kunsterlebnis ist was anderes. Dritter Akt.

Was soll ich denn malen?, frage ich. Eigentlich weiß ich schon, dass das eine große Dummheit ist. Aber wenn man nicht fragt, steht das Kind später hinter der Scheibe und brüllt stumme Befehle, die man von draußen nicht versteht. Also besser jetzt ein Verdikt, dann weiß ich, woran ich bin. Um mich herum höre ich die Wünsche der anderen Kinder an ihre Eltern. Ein Herz. Eine Blume. Ein Haus. 

Mein Kind sagt: Ein Gürteltier.

Als ich die Kita verlasse, steht die Sonne bereits hoch am Himmel. Das Baby schläft. Ich treffe den Vater mit dem staubigen Po draußen am Tor. Er sagt anerkennend: Gut gemacht.

Einfach so geht es mir plötzlich viel besser.

 

Foto: Pixabay

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