Ihr Lieben, ich bin sauer. Sauer aufs System und auf die Hilflosigkeit, mit der ich davorstand und -stehe.
Ich habe schon öfter darüber geschrieben, dass unsere Zwillinge mit fünf Jahren eingeschult werden MUSSTEN. Was wir Eltern davon hielten, welche Meinung wir dazu hatten - das zählte einfach nicht.
Hier in NRW ist der Stichtag der 30.9. Alle Kinder, die bis dahin sechs werden, müssen zur Schule. So traf es auch unsere Jungs, die als Zwillinge zwar für Oktober ausgerechnet waren, dann aber eben doch noch im Spetember zur Welt kamen.
Wir hätten sie gern zurückgestellt und ihnen noch ein Jahr Kindergarten geschenkt. Sie sind Zwillinge. Sie sind Jungs. Sie waren noch sehr klein. Und wir konnten gegen diese Einschulung mit fünf nichts ausrichten.
Wir sprachen mit dem Kinderarzt - der sagte: die beiden sind gut entwickelt, die sind schulreif.
Wir sprachen mit den Erzieherinnen - die sagten, die beiden schaffen das, die sind doch pfiffig. Und trotzdem sagte unser Bauchgefühl: Uiuiui, ob das wohl klappt!?!
Wir hätten kämpfen können. Psychologische Gutachten anfordern, sie vor Fachleuten schlechter machen können, als sie waren.
Man sagte uns voraus, dass wir - falls wir einen Rechtsstreit anfangen wollten - womöglich micht mehr arbeiten könnten, weil das ein Vollzeitjob werden würde. Wir wählten den Weg des geringeren Widerstands und feierten mit unseren fünfjährigen Jungs Einschulung.
Fünf Jahre sind seither vergangen. Fünf Jahre, in denen wir erkennen mussten, dass unser Bauchgefühl stimmte.
Sie hätten das verlorene Jahr noch gebraucht. Noch ein Jahr Kindsein, noch ein Jahr reifer werden, noch ein Jahr spielen - ohne Hausaufgaben und Druck.
Sie waren immer die Jüngsten. Sie bissen sich durch, aber da war nicht diese Leichtigkeit, mit der die große Schwester durch die Schule marschierte. Da war viel Mühe, viel Hinterherlaufen, viel Überforderung.
WARUM?
Warum müssen unsere Kinder heute so gestresst werden?
Warum wird den Eltern nicht geglaubt, wenn sie sagen, die Kinder bräuchten noch ein Jahr?
Warum muss alles so früh und schnell passieren, wenn wir doch heute alle die Möglichkeit haben, 100 Jahre zu leben?
Mit 5 zur Schule und dann durch G8 zum Turbo-Abi, um mit 16 mit verpasster Kindheit und ohne Lebenserfahrung ins Bachelorstudium zu rasseln? Ok, hier übertreibe ich jetzt, aber als Mutter lässt mich dieses Thema einfach unglaublich emotional werden.
Im Rückblick habe ich das Gefühl, dass unsere Jungs in den ersten Monaten nur staunend in der Klasse saßen. Boah. Alles anders. Neue Kinder. Hui. Pausenhof.
Sie waren nicht genügend aufnahmefähig für Schulstoff, weil alles drumherum so aufregend war.
Und wisst ihr, was das Schlimme daran ist? Selbst wenn sie dann später eine Klasse widerholen, weil einfach alles zu früh war - sie können diese Anfangszeit kaum wieder aufholen.
Diese verkrampfte Stifthaltung angewöhnt, weil sie viel zu früh ans Schreiben herangeführt wurden. Dieses Einbüßen von Selbstbewusstsein, weil sie immer mehr leisten mussten, als ihre Reife eigenlich zuließ... Ich schreibe mich in Rage, ihr hört das schon.
Wir blieben mit den LehrerInnen in Kontakt. Unsere Jungs wurden Klassenprecher, sie schlugen sich wacker durch. Und trotzdem fragten wir: Können sie die Eingangstufe nicht noch ein Jahr länger machen (Klasse 1 und 2 wurden zusammen unterrichtet in der so genannten Eingangstufe). Nein wieso? Läuft doch.
Sollen sie Klasse 3 wiederholen? Nein wieso? Läuft doch.
Bei Klasse 4 wurde uns noch mulmiger.
Nächstes Jahr schon sollten sie auf eine weiterführende Schule gehen? Würden sie das packen? Mit Linienbus-Fahrten und Oberstufenschülern und riesigen Gebäudekomplexen und noch mehr Leistungsdruck?
Und: Welche Schule würde passen? Wir machten uns unglaublich viele Gedanken. Und Sorgen. In mir entstanden sogar Fluchtgedanken. Wollen wir nicht einfach ein Jahr um die Welt reisen und sie erst nach unserer Wiederkehr in die 5. Klasse schicken? Mit mehr Reife und mehr Zeit und ohne diesen riesigen Druck?
Das war natürlich utopisch. Zeigte aber einmal mehr, dass Eltern einfach ein Gespür dafür haben, was ihren Kindern gut tut und was nicht.
Wir ließen uns vom schulpsychologischen Dienst beraten. Welche Schulform würde passen? Und entschieden uns. Und hofften.
Es folgte das anstrengendste Jahr seit der Zeit der Kleinkindphase. Mit Wutanfällen vor Klassenarbeiten, mit Resignation (mal bei ihnen, mal bei uns), mit Null-Bock-Verweigerung bei den Hausaufgaben. Das Schulthema wurde zum Kampfthema und ich fragte mich immer wieder und immer lauter: WARUM?
Wir hätten es doch so easy haben können! Wir sahen ja an unserer Tochter, wie Schule bei reif eingeschulten Kindern funktionieren kann. Wir sahen im Fußball, wie viel Ehrgeiz unsere Jungs entwickeln konnten - in einer Gruppe mit Gleichaltrigen. Warum musste uns dieses System so quälen?
Ich bin wirklich kein Mensch, der mit Reue auf getroffene Entscheidungen zurückblickt, aber wenn ich vorher gewusst hätte, welche dauerhaften Nachteile eine so frühe Einschulung mit sich bringt, dann würde ich heute meinen Job an den Nagel hängen und von mir aus ein Dreiviertel Jahr Vollzeit darum kämpfen, dass meine Kinder erst mit 6 zur Schule kommen.
Und deswegen begrüße ich auch die Petition gegen die Früheinschulung unserer Leserin Nadine Kolorz so sehr, die dafür sorgen soll, dass der Stichtag für die Einschulung Rheinland Pfalz auf den 30.6. vorverlegt wird, so dass kein Kind mehr mit 5 die Schulbank drücken muss. (Was anderes ist es, wenn es der Wunsch der Eltern ist, das Kind früher einzuschulen - aber der Zwang muss raus).
Denn wenn wir uns eins wünschen können, dann, dass Eltern ihre Kinder nicht gegen ihr Bauchgefühl zu früh einschulen müssen...
Wie es jetzt bei uns weitergeht? Selbstverständlich extrem. Mit Tränen und Wut und Abschieden. Unsere Jungs werden in dieser Woche noch einmal eingeschult werden. Müssen ihre Freunde ziehen lassen und mit einer neuen Klasse klarkommen, weil sie das Schuljahr wiederholen.
Der Druck muss raus, die Eile, das Ziehen und Zerren. Wir hätten ihnen diese Schmach so gern erspart.
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Bitte lest dazu auch unseren Gastbeitrag: Schulreif? "Für mein Kind kam die Einschulung zu früh." Eine Mutter erzählt
Und unser Stück:Weiterführend Schule: Über weitreichende Entscheidungen von Eltern
Tags: Schule, Schulsystem, Bildung, Kinder, Einschulung, Lernen0Landleben