Ein November-Nachmittag 2013. Das Licht versenkt sich im Boden, die Blätter wirbeln durch die Luft, von der Sonne ist nichts zu sehen an diesem Tag. Ich komme gerade mit meinem Hund vom Feld zurück, wo wir vom Wind uns haben treiben lassen und Regen und Nässe uns durchgepustet haben.
Nun fahre ich meinen Computer in meinem kleinen und gemütlichen Büro wieder hoch. Drei Nachrichten aus Moritz‘ Internat. Mein Herz klopft schneller. Sie kommen vom Klassenlehrer, vom Erzieher, vom Schulleiter. Alles schlechte Nachrichten. Niederschmetternde Nachrichten, die kein gutes Haar an meinem jüngsten Sohn lassen. Keine einzige Ermutigung, kein gutes Wort, nicht der kleinste Hoffnungsschimmer scheinen durch die bleischweren Nachrichten.
Warum unser jüngster Sohn ins Internat kam
Warum ist Moritz überhaupt im Internat am Niederrhein, einer katholischen Einrichtung mit Klosterkirche, straffen Strukturen und einer strengen Ordnung? Genau aus diesen Gründen. Weil die Pubertät bei ihm so stark gewirkt hat, unser Familienleben derart heftig durcheinandergewirbelt hat, Moritz in der Schule und auch sonst komplett abgedriftet ist, dass ich ihn mit dieser Entscheidung einfach retten wollte.
Moritz ist unser drittes Kind. Die beiden Großen sind acht und zehn Jahre älter und haben längst ihren Weg gemacht. Als mein erster Sohn in die Pubertät kam, und die anderen Mütter geschimpft haben, was das mit ihnen macht, habe ich einfach geschwiegen. Denn das kannte ich von ihm nicht.
Philipp war besonnen, ruhig, zielstrebig, immer ansprechbar. In der Schule hatte er einen einfachen Plan: Er wollte ein sehr gutes Abitur machen. Das ist ihm gelungen. Sein Freundeskreis war solide, alle gingen bei uns ein und aus, Alkoholexzesse gab es nicht, Vereinbarungen hielt er immer ein.
Katharina, unsere Tochter, war schon anders. Deutlich lebhafter, hebelte sie Zusagen auch manchmal aus. Sie wechselte die Schule, wechselte ihre Freundinnen, wechselte ihren Style. Bis heute. Und doch hat sie ein gutes Abitur gemacht und ist längst im Berufsleben angekommen.
Das dritte Kind wirbelte alles durcheinander
Moritz hat alles anders gemacht. Vom ersten Moment seiner Geburt an. Wenn Philipp geschlafen und Katharina geschrien hat, sah Moritz mich bloß mit großen Augen an. Hier bin ich, schien er zu sagen. Er war schon immer extrem willensstark.
Zwei Jahre hat er nicht durchgeschlafen. Schon als kleiner Junge weigerte er sich, zum Friseur zu gehen. Besuche bei der Kinderärztin waren eine Katastrophe, einfache Handhabungen wie Zähneputzen oder die Gabe von Medikamenten eine große Kraftprobe. Wobei er stets zu Extremen neigte. Entweder ließ er alles wortlos über sich ergehen oder er machte solch ein Theater, dass nichts mehr ging und die Ärztin ihren Dienst einstellte.
Kindergarten und Grundschule meisterte er mit Leichtigkeit. Beim ersten Elternsprechtag ließ die Direktorin mich wissen, dass er weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibe. Doch ein Zeugnis mit lauter Einsen und Zweien fand ich in Ordnung, und so sahen wir keinen Grund, etwas zu ändern.
Moritz wechselte auf ein Gymnasium. Die ersten drei Jahre verliefen gut, obwohl ich bei jedem Elternsprechtag das Gleiche hörte. Er würde sich zu wenig am Unterricht beteiligen, schnell abgelenkt und nicht bei der Sache sein.
Unterfordert? War Moritz einfach hochbegabt?
Sein Klassenlehrer riet mir, ihn testen zu lassen. Er vermutete eine mathematische Hochbegabung. Moritz würde neue Sachverhalte in Minuten verstehen, dann abschalten und den Clown spielen. Wir haben seinen Rat zunächst nicht befolgt.
Mein Mann, Professor für theoretische Physik, war sicher, dass Begabungen sich auch so durchsetzen. Und ich ließ es laufen. Fehler haben wir gemacht, Fehler hat auch die Direktorin der Grundschule gemacht. Moritz hätte eine extra Förderung gebraucht, um herausgefordert zu werden. So hat sich ein klassischer Underachiever mitten unter uns entwickelt, der bis zum Abitur vor zwei Jahren niemals gelernt hat, zu lernen.
In Klasse acht blieb er sitzen, haarscharf. Für mich war es ein Abklatschen der Lehrer, eine Strafe für unangepasstes Verhalten. Aber da Moritz mit noch knapp fünf Jahren schon eingeschult worden war und ohnehin inzwischen auf G8 umgestellt war, war ein Jahr nicht von Belang. Dann hätte er mit normalem Verlauf ohnehin schon mit 17 Jahren sein Abitur gemacht.
Moritz blieb sitzen, wiederholte Klasse 8
So wiederholte er die Klasse Acht in seiner alten Schule, und nach drei Monaten war der Alltag dort vorbei. Im November 2012 ging ich zum ersten Elternsprechtag in seiner neuen Klasse.
Als ich mit drei seiner Lehrer in Latein, Deutsch und Mathematik gesprochen hatte, die ihm schon jetzt, drei Monate vor Zeugnisausgabe Ende Januar, androhten, sowieso eine Fünf zu geben, egal, welche Anstrengungen er noch unternähme, wusste ich, dass Moritz auf dieser Schule keine Chance mehr haben würde. Und bei zweimaligem Sitzenbleiben seine Zeit auf dem Gymnasium vorbei sein würde.
Also vereinbarte ich für den kommenden Vormittag einen Termin im Internat am Niederrhein. Es war mir empfohlen worden, und da ich selbst Internatserfahrung hatte, die ich sehr schätzte, weil sie mir Halt und Struktur gegeben hat, die ich zuhause nicht haben konnte, dachte ich, dass es für Moritz eine gute Entscheidung sein könnte. Am 12. November 2012 zog Moritz ins Internat nach Goch.
Die erste Zeit im Internat
Die erste Zeit auf dem Internat und in der neuen Schule waren für Moritz sehr aufregend. Und ich habe ihn, obwohl die Stimmung zu Hause vom einen auf den anderen Moment entspannt war, weil es kein Türenknallen, kein Geschrei mehr gab, schrecklich vermisst. Körperlich vermisst, mein Herz tat weh.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, und ich besuchte ihn, so oft ich konnte. Da er nur alle zwei Wochen Heimfahrt hatte, fuhr ich an den übrigen Wochenenden immer hin und manchmal auch unter der Woche.
Moritz wurde in Klasse Neun versetzt. Im ersten Halbjahr hatte er dann auf dem Zeugnis acht Fünfen und eine Sechs. Die Sechs in Sport, weil er sich geweigert hatte, im Schulschwimmbad, das er schmuddelig fand, mitzuschwimmen. Solch ein Zeugnis hatten wir noch nie gesehen. Ich war verzweifelt, ratlos und sah kaum noch Perspektiven für den Verbleib von Moritz auf dieser Schule.
Wir ließen unseren Sohn ärztlich durchchecken
Gleichzeitig riet uns der Erzieher von Moritz, mit ihm eine Psychologin aufzusuchen, um abzuklären, ob er eine Psychose habe, vielleicht autistisch sei oder Depressionen auszuschließen seien. Wir stimmten zu und nur einige Tage später hatten wir einen gemeinsamen Termin mit Moritz, dem Erzieher, der Psychologin und eben uns in einer Fachklinik.
Nach zwei Wochen bekamen wir ihre Diagnose per Post. Moritz sei ein höflicher junger Mann, der zugegeben habe, dass die strengen Strukturen im Internat ihm helfen. Er zeige keinerlei Anzeichen einer psychischen Störung und sie wünsche ihm für die Zukunft alles Gute.
Wir waren beruhigt, obwohl ich wusste, dass Moritz einfach nur von der Pubertät gepackt war und keine der Zusagen, die Erwachsene von ihm forderten, einhalten wollte. Die Erwachsenenwelt wollte immerzu von ihm Dinge, die er nicht bereit war, zu geben. So einfach war das. Ich habe immer an Moritz geglaubt und ihn verstanden. Ich war ihm immer sehr nah.
Ohne Diagnose weiter durch Klasse 9
Ach ja, die Klasse Neun hat er übrigens noch geschafft. In Sport bekam er eine Zwei, weil er gerne und gut Badminton spielte und in allen anderen Fächern holte er so auf, dass seine Versetzung nicht gefährdet war. Eine riesengroße Zitterpartei für Moritz, aber auch für mich und meinen Mann und seine Geschwister. Alle hatten mitgefiebert.
In mir wuchs aber der Unmut, nein - die Verärgerung und Wut über die Macht der Lehrer. Ich habe mit drei Kindern an drei Gymnasien sehr viele Lehrerinnen und Lehrer kennengelernt, mehr, als die meisten anderen Mütter.
Mein Fazit: Es gibt viele schlechte und einige gute. Ich würde sagen: Lieber gar kein Lehrer als ein schlechter Lehrer. Ein guter Lehrer ist für mich ein Mensch, der ein Kind ermutigt. Es lobt, auch wenn es scheinbar wenig oder nichts zu loben gibt. Denn es ist alles eine Frage der Perspektive. Ich kann ein vernichtendes Urteil fällen oder ich kann Hoffnung vermitteln, etwas Gutes finden, das ausgebaut werden kann.
Schüler brauchen Lehrer, die sie ermutigen
Meine Erfahrung ist, dass ein Kind, das von seinem Lehrer, seiner Lehrerin ermutigt wird, die an ihn, an sie glaubt, für diesen Menschen durch’s Feuer geht und Leistung zeigt. Ermutigung ist so wichtig, besonders in den Jahren, in denen das Leben da draußen unsere Heranwachsenden so fordert fordert.
Der Philosoph Richard David Precht hat schon oft vorgeschlagen, dass ein Jugendlicher zwischen dem 14. und dem 17. Lebensjahr keine Schule besuchen, sondern das Leben erproben soll. In dieser Zeit werden so viele Synapsen im Hirn miteinander verknüpft, dass für das ganz normale Regelwerk und den oftmals langweiligen Unterricht einfach keine Zeit bleibt.
Wenn der Jugendliche dann Zeit und Muße hat, könne er die Schule mit Leichtigkeit nachholen. Ein mutiger Gedanke, den ich unterstütze. Ja, Mut und Ermutigung haben Moritz in diesen Jahren gefehlt. Mir auch.
Oft, wenn diese Nachrichten am Nachmittag per Mail oder immer samstags per Post kamen, war mein Tag, mein Wochenende verdorben. Schwarze und schwärzeste Gedanken ergriffen rückhaltlos Besitz von mir. Ich zog die Vorhänge zu und konnte nichts anderes mehr tun, als mich zu sorgen.
Als Mutter verkroch ich mich, hatte nur noch Sorgen
Ich habe alles abgesagt, was mir gut tat. Freundinnen treffen, zum Ballett gehen, die Klavierstunde wahrnehmen, ausgehen. Ich versteckte mich zu Hause und machte mir nur Sorgen.
Hätte es in dieser Zeit nur EINEN Menschen außerhalb der Familie gegeben, der gesagt hätte, dass alles eine Frage der Zeit ist, dass Moritz einen guten Kern hat, dass er sich ganz sicher entwickeln wird, dass ich mir nicht endlos Sorgen um ihn machen müsse – das hätte mir riesig geholfen.
So war ich umgeben von meinem Mann, Moritz‘ Geschwistern, meiner Mutter, die manchmal einfach sprach- und ratlos waren. Genauso wie ich.
Also beschloss ich, mir meine übergroßen Sorgen um Moritz von der Seele zu schreiben. Ich begann, einen Leitfaden in zehn Schritten zu entwickeln, der mir wie ein Gerüst, an dem ich mich an schwachen Tagen hochhangeln konnte, helfen solle.
Ein Zehn-Punkte-Programm, das wirklich einfach und einleuchtend klingt. Eins ist Vertrauen in Ihr Kind. Endlos und ohne Punkt am Horizont. Zwei ist feste Regeln aufstellen, an die das heranwachsende Kind sich halten muss. Und es drohen bei Nichteinhaltung keine Strafen, sondern es winkt eine Konsequenz, damit der Jugendliche begreift, welche Folgen sein Handeln hat.
Der Punkt Vier, die richtige Schule suchen, nimmt am meisten Raum ein, weil das einer der größten Herausforderungen für mich war. In Kurzform ist es so: Die richtige Schule ist die, auf die unser Kind gern geht. So einfach ist das.
Mein 10-Punkte-Programm zum Durchhalten
Aus diesem 10-Punkte-Programm habe ich ein Buch entwickelt, das ich mit lauter persönlichen Anekdoten angereichert habe. Es ist 200 Seiten dick und hat ein hübsches Cover in Türkis mit schöner Schrift. Es heißt: "Nur Mut. Die Erfahrungen einer Mutter. Eigentlich kein Ratgeber für Eltern herausfordernder Kinder." (Affiliate Link)
Ich habe das Manuskript an viele Verlage geschickt, die wussten es aber nicht einzuordnen. Es sei ja kein reiner Ratgeber und auch kein reiner Roman. Niemand wollte es drucken. So druckte ich es auf eigene Faust und übernahm die Vermarktung selbst.
Wie geht es uns heute? Moritz hat vor zwei Jahren Abitur gemacht und studiert nun Jura. Er hat die Pubertät überwunden und räumt manchmal ein, dass er uns und vor allem mir ja richtig „Ärger“ gemacht habe.
Ich sage dann, dass er einfach eine Herausforderung und niemals eine Last war. Und dass ich ihn sehr liebe. Er glaubt mir das, weil es so ist. Von daher bin ich froh über die Erfahrungen mit Moritz. Sie haben mir viel gebracht.
Ach und noch etwas: Bevor ich das Buch habe drucken lassen, hat Moritz es gelesen. Komplett und vollständig. Hätte er Bedenken gehabt, hätte ich es nur in sehr kleiner Stückzahl für unsere Familie drucken lassen. Aber er war ganz lässig und entspannt und gab sein OK. Wir sind uns immer noch sehr nah.
----- Infos zur Autorin: Gabriele Schreckenberg, Jahrgang 1960, Journalistin und Autorin, lebt mit ihrem Mann, einem Professor für Physik, in Duisburg. Ihre drei Kinder sind erwachsen. Das Buch „Nur Mut. Erfahrungen einer Mutter“ (Affiliate Link) ist ihr erstes Buch. Es ist über Amazon bestellbar. Mehr Infos auch unter: www.gabriele-schreckenberg.de
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